Abkürzung auf dem Weg zu Freiformoptiken

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Abkürzung auf dem Weg zu Freiformoptiken

Erschienen im Magazin: Kunststoffe 12/2013, Seite 76-80

Autoren: Lars Dick (Jenoptik Polymer Systems GmbH) und Laura Florez

Virtuelle Abmusterung. Die Herstellung von optischen Bauelementen aus Kunststoff geht in der Regel mit einem stark iterativen Prozess während der Formteilentwicklung und Werkzeugfertigung einher. Grund dafür sind die ungenauen Kenntnisse des Spritzgießverhaltens. Ein Fallbeispiel aus einem Forschungsprojekt zeigt, wie eine virtuelle Abmusterung dieses schrittweise Vortasten ersetzen und die Kosten dabei erheblich senken kann.

 

Die Herstellung optischer Komponenten gehört zu den anspruchsvollsten Aufgaben des Spritzgießens. Die genaue Dimensionierung,
die engen Toleranzen und die unverrückbare Forderung nach fehlerfreien und reproduzierbaren Teilen bilden in dieser Industrie den Handlungsrahmen. Forciert durch die zunehmende Miniaturisierung und höhere Funktionalität neuer Gerätegenerationen verzeichnet die Branche in den letzten Jahren eine stark steigende Nachfrage nach spritzgegossenen hochpräzisen optischen Komponenten. Analog zu den asphärischen optischen Funktionflächen der vergangenen Jahrzehnte werden für künftige Systeminnovationen freiformoptische Funktionsflächen die technischen Elemente sein, mit denen sich die Leistungsfähigkeit der Systeme und die Bauteilgröße optimieren lassen. Unter der Bezeichnung Freiformoptik sind brechende und reflektierende Oberflächen zusammengefasst, die sich von sphärischen und asphärischen Geometrien deutlich unterscheiden.

Allerdings sind Anfragen zu Kunststoffausführungen von Freiformoptiken aufgrund unzureichend verfügbarer technischer Grundlagen derzeit nur mit unwirtschaftlich hohem Aufwand zu erfüllen. Im Rahmen des Projekts FREE – die Abkürzung steht für „Freiform Präzisionsoptik“ – war die Jenoptik Polymer Systems GmbH, Triptis, mit der Herausforderung konfrontiert, nicht rotationssymmetrische Freiformoptiken aus Hochleistungskunststoffen herzustellen. Dabei lautete die Zielsetzung, eine Präzision von 0,5 µm zu erreichen. Um in diesen lukrativen Bereich vorzudringen, in dem polymerbasierte Präzisionsoptiken mit nicht rotationssymmetrischem Freiformprofil die Schlüssellösung liefern, sollte dieses Projekt die Kompetenzgrundlagen dafür schaffen.

 

 

Bild 1: SIGMASOFT® Virtual Molding betrachtet alle Information zur Werkzeugtemperierung. Damit wird die Temperaturverteilung an jedem Punkt im Bauteil und Werkzeug zu verschiedenen Zeitpunkten über mehreren Zyklen dargestellt.

Die Prozessabstimmung bei Freiformflächen
Für Optikbauelemente aus Kunststoff haben die Hersteller grundsätzlich die Wahl zwischen den urformenden Replikations methoden Spritzgießen bzw.Spritzprägen und den abtragenden Methoden der Diamantbearbeitung. Während bei kleinen bis mittleren Losgrößen, die für Prototyping-Aufgaben charakteristisch sind,vorzugsweise abtragende Methoden eingesetzt werden, kommen replikative Abformmethoden aufgrund der hohen Vorbereitungskosten nur bei Großserien zum Einsatz. Die hohen Vorbereitungskosten liegen vor allem an der aufwendigen Herstellung der Masterformen, die einen erheblichen Investitionsvorlauf bedingt und, aufgrund der nur vagen Kenntnisse des Spritzgießprozesses,nicht selten mehrere Iterationsschleifen verlangt. Für asymmetrische Freiformprofile ist die maschinelle Umsetzung der komplexen Geometrie in ein duktiles Werkzeugeinsatzmaterial mit der geforderten optischen Güte sowie die notwendige Messtechnik höchst anspruchsvoll. Die Untersuchung und Bestimmung der Prozessbedingungen beim Spritzgießen ist für diese Genauigkeitsanforderungen eine bisher ungelöste Aufgabe. In diesem Fall wurde das Simulationsverfahren „Sigmasoft Virtual Molding“ (Sigma Engineering GmbH, Aachen) eingesetzt, um den Einfluss unterschiedlicher Prozessparameter auf die Bauteilqualität zu analysieren. Bei allen Rechenschritten sind die Spritzgussteile und das Replikationswerkzeug aneinander gekoppelt. Die Formfüllung wird basierend auf den vollständigen 3D-Navier-StokesStrömungsgleichungen berechnet. Daran
schließt sich die echte 3D-Berechnung der Nachdruck- und Abkühlphase sowie von Schwindung und Verzug des Bauteils bis
zum Erreichen der Raumtemperatur an. Nach einer ersten thermodynamischen Betrachtung wird eine Zeit zum Aufheizen des Werkzeugs und anschließend die Zykluszahl bis zum Erreichen des thermischen Gleichgewichts ermittelt, bevor ein reproduzierbarer Replikationsprozess
sinnvoll ist. Bei den folgenden Simulationen zum Füllvorgang werden mehrere Schwerpunkte betrachtet:

  • Strömungsfelder,
  • Druck- und Temperaturverteilung in der Schmelze zu unterschiedlichen Zeitpunkten,
  • Verlauf der freien Oberfläche während der Formfüllung,
  • eventuelle Lage von Bindenähten und Lufteinschlüssen und
  • Darstellung der Formfüllung und Strömungsvorgänge hinter der Fließfront mithilfe von (massenlosen) Tracerpartikeln.

Nach der simulierten Füllphase wird die Abkühl- und Nachdruckphase betrachtet, wobei hier die Temperaturverteilung während der Kühlphase im Vordergrund steht, um eine optimale Restkühlzeit zu ermitteln. Anschließend werden Schwindung und Verzug in allen Raumrichtungen ermittelt und dargestellt.

 

Bild 2: Die Multi-zyklus Berechnung ermöglicht eine Aussage zum annähernden Gleichgewichtszustand. Im Bild ist zu erkennen, das erst ab Zyklus 30 werden die Bauteile die Qualitätsanforderungen entsprechen.

Thermische Analyse des Werkzeugs
Zunächst soll durch die thermische Simulation ermittelt werden, wie lange die Temperierkanäle im Werkzeug mit 90 °C heißem Wasser durchströmt werden müssen, bis die Zieltemperatur bzw. ein thermodynamischer Gleichgewichtszustand nahezu erreicht ist (Bild 1). Das Werkzeug nimmt zu Beginn sehr viel Energie auf. Nach ca. 10 min ist der Energieeintrag schon deutlich geringer, ein stationärer Zustand aber noch nicht erreicht. Nach 30 min Aufheizen mit 90 °C warmen Wasser ist eine homogene Temperaturverteilung zwischen 86,5 und 86,8 °C in der Kavität erkennbar; diese Zeit sollte daher in den praktischen Versuchen (Tabelle) eingehalten werden, bevor die ersten Spritzgussteile produziert werden. Die hergestellten Teile wiederum bringen jedoch zyklisch einen thermischen Eintrag in das thermodynamische Gesamtsystem, nach der bekannten Gleichungsbilanz:
QSchmelze + QTemperierung = QBauteil + QStrahlung

Demnach soll die Energiemenge, die durch die Schmelze (Bild 2) und die Temperierkanäle des Werkzeugs eingebracht wird, der Summe aus der Energie des entnommenen Spritzlings und der Wärmestrahlung des Werkzeugs gleichen. Ändert sich die Summe aus all diesen Energieströmen nicht mehr, so hat das System vor dem Zyklus denselben energetischen Zustand wie danach. Damit hat es einen quasi-stationären Zustand erreicht und die Gutteilproduktion kann beginnen. Wenn dieser Gleichgewichtszustand beispielsweise ab Zyklus 30 herrscht, müssen die ersten 30 Teile jeder Versuchsreihe als Ausschuss gelten. Erst ab dem 31. Teil können sinnvolle Messungen vorgenommen werden.

Bild 3: Energieeintrag der heißen Polymerschmelze über die Einspritzphase, die eine Temperaturerhöhung von 88,4°C auf 95,5°C im Bereich der Freiformfläche des Abformwerkzeuges generiert.

Analyse des Füllverhaltens
Der thermischen Betrachtung des Replikationsprozesses folgt die Füllsimulation. Dabei lassen sich eventuelle Freistrahlbildungen, Fließlinien oder auch Lufteinschlüsse erkennen. Der in der Simulation ermittelte homogene Füllvorgang stimmt mit den Ergebnissen der Spritzgießversuche sehr gut überein (Bild 3). Für den praktischen Vergleich wurde eine Füllstudie gemacht, bei der man jeweils nur einen definierten Materialanteil in die Form spritzt, der nicht zur kompletten Formfüllung ausreicht. Beim ersten Teil in der Darstellung sind noch 17 cm3 Schussvolumen in der Dosiereinheit und beim letzten Teil noch 3,5 cm3. Die Simulation zeigt, wie sich die Temperatur der Schmelze in der Füllphase ändert. Hier ist gut zu erkennen, dass sich das Bauteil angussnah in einigen Bereichen an der Oberfläche deutlich abkühlt. Dabei werden Temperaturen von 130 °C
erreicht. Aufgrund der langen Füllzeit ergibt sich schon am Ende der Füllphase ein Temperaturunterschied im Bauteil (Titelbild). Eine Erklärung dafür kann auch die Simulation liefern,indem die Strömungsverhältnisse hinter der Fließfront durch sogenannte Tracerpartikel (massenlose
Partikel) dargestellt werden. Hier zeigt sich deutlich, dass die Masse angussnah in einigen Bereichen langsamer strömt und hier schneller abkühlt als in Bereichen, in denen der Kunststoff noch stark geschert wird oder warme Schmelze nachströmt.

Bild 4: Der simulierte Füllvorgang korreliert gut mit den praktischen Ergebnissen.

Nachdruck- und Erstarrungsverhalten
Bei der simulierten Druckverteilung des Bauteils fällt auf, dass die eingestellten 1000 bar Nachdruck nur an der düsennahen Seite des Angusses herrschen. Mit zunehmender Entfernung von Anguss nimmt der wirksame Druck ab. Zu Beginn der Nachdruckphase herrschen im Bauteil 968 bar angussfern und 975 bar angussnah. Am Ende der Nachdruckzeit beträgt der Druck angussfern nur noch 600 bar und angussnah 622 bar (Bild 4).
In einem nächsten Schritt kann die Erstarrung des Bauteils simuliert werden (Bild 5). Das ist von hoher Relevanz, da man durch diese Simulation eine verlässliche Aussage zur Nachdruckzeit sowie Restkühlzeit erhält. Die Aufrechterhaltung des Nachdrucks hat nur einen positiven Effekt auf die Abformgenauigkeit, solange eine flüssige Seele zwischen Anguss und Bauteil aufrecht erhalten werden kann. Bereits erstarrte Bereiche sind transparent dargestellt. Rote Bereiche sind noch schmelzeförmig und werden noch mit Nachdruck versorgt. Blaue Bereiche sind noch schmelzeförmig, können aber nicht mehr mit Nachdruck versorgt werden. Hier ist nur noch der eingebrachte Druck relevant, um die Volumenschwindung des Kunststoffs zu kompensieren. Bis ca. 90 % erstarrtes Volumen kann das Bauteil mit Nachdruck versorgt werden. Nach 30 s Nachdruckzeit ist die notwendige Verbindung zur Linse erstarrt, eine längere Nachdruckzeit ist zur Erhöhung der Abformgenauigkeit nicht
sinnvoll (Bild 4 rechts). Im Rahmen der Versuche wird daher die ursprünglich definierte Nachdruckzeit von 20 auf 30 s verlängert. In der Nachdruckphase treten nur noch sehr geringe Scherraten und auch niedrigere Temperaturen auf. Dadurch steigt die Viskosität in der Nachdruckphase stark an. Die hohe Viskosität bewirkt, dass die Masse schwerer nachgedrückt werden kann.

Was sagt nun die Simulation über die Kühlzeit? Dazu wird die Temperatur über den Querschnitt des Bauteils vorerst 100 s nach dem Füllvorgang analysiert (nach dem Fourierschen Gesetz berechneter Wert). In der Darstellung (Bild 6) kann man sehen, dass der Mittenbereich knapp
118 °C aufweist und damit noch über der Glasübergangstemperatur liegt. Nach der definierten Restkühlzeit von 180 s und einer Nachdruckzeit von 30 s (Kühlzeit = 210 s) ist die Temperatur im Mittenbereich auf ca. 94 °C und damit unter die Vicat-Erweichungstemperatur (103 °C) gesunken, während die Randbereiche der Freiformfläche schon nahezu die Temperatur der Kavität von 89 °C angenommen haben. 30 min nach Entformung hat das Teil dann mit 25,3 °C im inneren Kern nahezu Raumtemperatur erreicht.
Zuletzt wird die Verformung betrachtet. Im Durchmesser schwindet die Fläche nahezu gleichmäßig um 180 µm bei 44 mm Durchmesser.Das entspricht einer Schwindung von 0,41 %,was der praktisch ermittelten Schwindung von 0,3 % sehr nahe kommt. Auch beim Vergleich der
mittleren Verformung in Abhängigkeit des Nachdrucks stimmt die Korrelation zwischen gemessenen und vorhergesagten Werten gut überein (Bild 7).

Bild 5: Aufgrund der langen Füllzeit ergibt sich schon am Ende der Füllphase ein Temperaturunterschied im Bauteil.

Bild 6: Bei der simulierten Druckverteilung des Bauteiles fällt auf, dass die eingestellten 1000 bar Nachdruck nur an der Düsennahen Seite des Angusses herrschen. Mit zunehmender Entfernung von Anguss nimmt der wirksame Druck ab

Fazit
Die Herstellung von optischen Komponenten ist heute oft mit aufwendigen Iterationsschleifen vor dem Produktionsstart verbunden. Das Sigmasoft Virtual Molding kann die Wechselwirkungen zwischen Prozessparametern und Bauteilqualität vorhersagen. Damit lassen sich Entwicklungszeit und -kosten einsparen. Darüber hinaus kann die Ursache für unerwünschte Defekte früh erkannt und korrigiert werden.

Bild 7: Die Vorhersage des Erstarrungsverhaltens ermöglicht eine Aussage zur Nachruck- und Restkühlzeit. Simulierter Erstarrungsprozess der Freiformoptik bei 30 s Nachdruckzeit und Viskosität zu Beginn und Ende der Nachdruckzeit.